Warum braucht es ein Projekt wie „ErwiN“

Nach der 14. zwischen den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder koordinierten Be­völkerungsvorausberechnung wird die Bevölkerung ab 67 Jahren von 16,2 Mio. Personen im Jahr 2020 bis zum Jahr 2040 mit 5,2 Mio. um gut 32 Prozent auf 21,4 Mio. Personen anwachsen und bis zum Jahr 2060 auf diesem Niveau verbleiben. Im Zusammenhang damit wird die Anzahl chronisch erkrankter und von Multimorbidität und Pflegebedürftigkeit betroffener Menschen steigen. In den meisten länd­lichen und ebenso den strukturschwachen städtischen Regionen werden die beschriebenen demo­grafischen Entwicklungen noch ausgeprägter ausfallen. Da bezogen auf den medizinischen und pfle­gerischen Versorgungsbedarf Kontakthäufigkeit und Versorgungsintensität mit dem Alter insgesamt deutlich ansteigen, wird die Beanspruchung der Angebote vor Ort deutlich zunehmen. Zudem sind die Arztpraxen hier bereits jetzt in vielen Fällen mit dem alltäglichen Patientenaufkommen überfordert. Das resultierende „Diktat des Dringlichen“ unterstützt einen zu einseitig auf akute Erkrankungen aus­gerichteten Medizinansatz, der für geriatrische Patienten besonders nachteilig ist. Auf internationaler Ebene übernehmen akademisch qualifizierte (in der Regel Masterniveau) PFP mit fortgeschrittenen Kompetenzen und klinischer Expertise (Advanced Practice Nurses, APN) bereits wesentliche Rollen in der multiprofessionellen Versorgung im Sinne der advanced nursing practice (ANP). Untersuchungen zeigen, dass die Arbeit von APN verschiedentlich mit Verbesserungen von Gesundheitszustand, -ergebnissen und -verhalten verbunden ist (vgl. für eine Übersicht zu vorliegenden Ergebnissen [1]).

In Deutschland empfiehlt der Sachverständigenrat für Gesundheit (SVR-G) bereits seit 2007 die Erprobung und Förderung neuer Versorgungsmodelle, die Tätigkeitsfelder im Sinne von ANP und eine Neuverteilung von Aufgaben beinhalten, um Risiken in der Versorgung pflegebedürftiger Menschen zu minimieren, die Versorgung zu verbessern und Kompetenzen optimal zu nutzen [2]. Allerdings hinkt Deutschland hier der internationalen Entwicklung in beispielsweise Skandinavien oder Ozeanien um 15-20 Jahre hinterher. Ausnahmen wie beispielsweise die Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen spezialisierten Pflegefachkräften und Ärzten in der Palliativversorgung sind selten. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die rechtlichen Voraussetzungen für die Übertragung ärztlicher Tätigkeiten auf Berufsangehörige der Kranken- und Alten­pflege im Sinne der ENP wurden auch in Deutschland bereits im Jahr 2008 mit § 63 Abs. 3c SGB V und § 4 Abs. 7 KfPflG geschaffen. Eine Übertragung ärztlicher Tätigkeiten an speziell qualifizierte und selbständig agierende Pflegekräfte erfordert eine enge Abstimmung und eine gute Vertrauensbasis zwischen Arzt und Pflegekraft. Arztnetze stehen per se für eine multiprofessionelle und arbeitsteilige Zusammenarbeit in der Patientenversorgung und bilden daher den idealen Rahmen, um gemeinsam und auf Augenhöhe die Versorgung zum Wohle der Patienten neu zu gestalten.

Speziell ausgebildete Krankenpflegende (APN) sind international wichtig für die Gesundheitsversorgung und verbessern die Gesundheitsergebnisse. Das Projekt untersucht, ob durch diese Pflegefachkräfte eine bessere Betreuung erreicht und Krankenhausaufenthalte verringert werden können. In Deutschland wird empfohlen, neue Pflegemodelle einzuführen, um die Versorgung zu verbessern, doch es hinkt anderen Ländern um 15-20 Jahre hinterher. Rechtliche Grundlagen für Pflegende, um bestimmte ärztliche Aufgaben zu übernehmen, existieren bereits. Ärzte in Netzwerken sind zentral für die Neugestaltung der Patientinnenversorgung.

Was können und dürfen die „ErwiN – Fachkräfte“ und wie sind sie ausgebildet?

Zugangsberechtigt für die spezialisierte Ausbildung sind examinierte Pflegefachkräfte mit mindestens zwei Jahren Berufserfahrung (keine MFA, keine Pflegehelfer). Grundlage der zusätzlichen Ausbildung bilden die von der Fach­kommission nach § 53 Pflegeberufegesetz (PflBG) entwickelten standardisierten Module zum Erwerb erweiterter Kompetenzen zur Ausübung heilkundlicher Aufgaben. Im Projekt ErwiN werden folgende vier Module mit einem Ausbildungsumfang von insgesamt 840 Ausbildungsstunden (entspricht 6 Monaten zusätzlicher Vollzeitausbildung!) ausgewählt: Das Grundlagenmodul (pro­fessionelles Berufs- und Rollenverständnis mit erweiterter heilkundlicher Verantwortung zur Versorgung multimorbider und chronisch erkrankter Patienten) und jeweils ein Modul für die erweiterte heilkundliche Verantwortung für Pflege- und Therapieprozesse mit Men­schen aller Altersstufen, die von einem Hypertonus, von Schmerzen oder von spezifischen Ernährungs- oder Ausscheidungsproblemen betroffen sind. Die Ausbildung erfolgt durch die Universitätsmedizin Greifswald nach einem von zwei Bundesministerien (BMG und BMFSFJ) genehmigten Curriculum und schließt mit einer dreitägigen staatlichen Prüfung (mündlich, schriftlich, praktisch) ab. 50% der Ausbildungsanteile werden dabei als Theoriekurs gelehrt, 50% im Rahmen praktischer Ausbildungsanteile. Nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung sind die spezialisierten Pflegfachkräfte in der Lage, bestimmte Patienten und Krankheitsbilder temporär eigenverantwortlich zu versorgen. Grundlage dafür ist die vorherige Übertragung der Aufgaben und Tätigkeiten durch den Arzt. Im ärztlichen Übertragungsgespräch werden dabei die Zusammenarbeit zwischen beiden Professionen, Verantwortlichkeiten und Rückkopplungsschleifen besprochen und festgelegt.

Welche Ziele sollen mit „ErwiN“ erreicht werden?

Primär soll natürlich die Versorgungssituation der Patienten verbessert werden. Darüber hinaus soll aber auch die interprofessionelle Zusammenarbeit weiterentwickelt und für die Regelversorgung erprobt werden. Das gesamte Projekt ist daher als groß angelegte Interventionsstudie konzipiert und wird als solche vom Innovationsausschuss beim Gemeinsamen Bundesausschuss über eine Laufzeit von insgesamt 42 Monaten gefördert. Die Studienziele sind:

  • Reduzierung der aus medizinischer Sicht nicht notwendigen Krankenhausaufenthalte, abgebildet über die ambulant-sensitiven Krankenhausfälle (ASK)
  • Stabilisierung ambulanter/häuslicher Versorgung
  • Reduzierung der potenziell inadäquaten Medikation (PIMS)
  • Erweiterung des Pflegeberufsbildes und Entlastung der Ärzte unter Nutzung der Möglichkeiten der Übertragung ärztlicher Tätigkeiten auf SPFP im Bereich der Primärversorgung
  • Absicherung ärztlicher Expertise unabhängig von Ort und Zeit durch die systematische Unter­stützung der Versorgungsabläufe durch Telemedizin
  • Ergänzung/Weiterentwicklung der Primärversorgung im Sinne eines multiprofessionellen, team­orientierten und sektorenübergreifend strukturierten Behandlungsansatzes
  • Schaffung von Grundlagen für eine ggf. spätere breitere Umsetzung in der GKV auf der Basis einer detaillierenden Dokumentation von Leistungen und Aufwand aller im Zusammenhang mit der Übertragung stehenden Tätigkeiten aus der Anwendungspraxis heraus.
Literaturverzeichnis
[1] Ayerle, G. et al. 2020: Selbstständige Ausübung von Heilkunde durch Pflegekräfte, Pflege-Report 2019:179-188. Doi: 10.1007/978-3-662-58935-9_14
[2] Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR). 2007, 2009, 2012, 2014. https://www.svr-gesundheit.de/gutachten/default-title/. Letzter Zugriff 24.10.2023